Fotos. Patrice Kunte

 

Aufbruch in die Fremde - Literaturabend

Arbeitshilfe Seite 38 - 39

Eine ungewöhnliche Migrationsgeschichte

Shaun Tans ›Ein neues Land‹ ist die Geschichte einer Migration: Ein Mann packt seinen Koffer. Er hat sich entschieden, Heimat und Familie zu verlassen, denn deren Existenz ist bedroht. Nach dem Abschied von Frau und Tochter macht er sich mit Zug und Schiff auf den Weg in ein anderes Land, um dort neue Lebensmöglichkeiten für  seine Familie zu schaffen. Am Ziel jenseits des Ozeans angekommen, muss er die Überprüfung der Einwanderungsbehörden über sich ergehen lassen, sich Wohnung und Arbeit suchen. Letzteres ist angesichts der Fremdartigkeit seiner Wahlheimat äußerst mühselig: unverständliche Schriftzeichen, merkwürdige Gebäude, riesige Maschinen, seltsame Lebewesen, die sich Menschen als Haustiere halten, sonderbare Essgewohnheiten; selbst die Uhren gehen in diesem Land anders. Während seiner Spaziergänge  durch die fremde Metropole lernt er immer wieder andere Migranten kennen, die sein Schicksal teilen und deren Geschichten ebenfalls geschildert werden. Schließlich findet er nach einigen vergeblichen Versuchen Arbeit in einer Fabrik und lebt sich nach und nach ein. Bereits nach einem Jahr kann er seine Familie nachholen. Vor allem seine Tochter hat wenig Probleme, sich in der neuen Umgebung einzuleben. So endet das Buch mit der hoffnungsvollen  Perspektive einer gelingenden Integration.


Shaun Tans ›Ein neues Land‹ ist ein ungewöhnliches Buch, denn es kommt gänzlich ohne Sprache aus. Die Geschichte wird komplett in Bildern erzählt, die mit Graphitstift auf Papier in einer Kombination von genauen Konturen, Schattierungen und unterschiedlicher Helligkeitsstufen gezeichnet und am Computer in Sepia nachkoloriert wurden, sodass sie  den Eindruck verblichener Fotos erwecken. Und so erscheint das Buch in seiner Aufmachung vom Buchdeckel bis zur letzten Seite wie das Fotoalbum eines  Migranten bzw. einer Migrantin – voll mit persönlich wertvollen Erinnerungen. Interessant ist die Mischung der Bilder: Zum einen wird die Realität abgebildet, zum anderen, überwiegenden Teil werden surreale Elemente dargestellt. So werden die Vorbereitung zur Ausreise und der Abschied in einer realistischen Weise gezeigt (z. B. Koffer packen, letzte gemeinsame Zeit in der Familie, Ausfüllen der Einreisedokumente) – während vor allem die Erlebnisse im neuen Land gespickt sind mit fantastischen Szenarien  (z. B. riesige zylinderförmige Türme, Gebäude aus runden Scheiben, unerklärbare, mit Symbolen versehene Kreise, gewaltige Skulpturen, merkwürdige tierische Lebewesen, Bäume wie große Blätter). Interessant ist auch die Anordnung der Bilder: Wie in einem Film verwendet Shaun Tan an einigen Stellen ›Schnitte‹.  So wird z. B. das Einpacken des Familienfotos in einer Bilderfolge von neun Nahaufnahmen dargestellt, die dann schließlich in ein Bild in der Totale münden, auf dem das Ehepaar gemeinsam mit ineinander
verschlungenen Händen auf dem bereits verschnürten Koffer abgebildet ist. Ein ähnliches Vorgehen entdeckt man bei der Schilderung der Arbeit in der Fabrik. Die wiederholten Wechsel vom Einzelschicksal auf die Totale drücken aus, dass die Erzählung nicht die Lebensgeschichte eines bestimmten Menschen wiedergibt, sondern stellvertretend für viele Migrationsschicksale steht. Dieser Eindruck wird
noch verstärkt durch die Gesichterparade von Menschen aus aller Welt auf dem Vorsatz.

Shaun Tans ›Ein neues Land‹ ist eine in Bildern dargestellte Parabel über die Situation von Einwanderern, gekennzeichnet durch Verlust, Frust und Hoffnung. Der Betrachter/die Betrachterin wird durch die stimmungsvollen und von surrealistischen Motiven durchzogenen, stummfilmartig angeordneten Bilder und das gänzliche Fehlen von Sprache unwillkürlich mit hineingenommen in die Probleme des Einlebens in einem wildfremden Land. Man ist sofort in der Rolle der ‚Stummen und Sprachlosen’, denn die Symbolik der Bilder erschließt sich nicht sofort mittels eines erklärenden Begleittextes. Durch die Verwendung dieses stilistischen Mittels fühlt man sich ähnlich wie MigrantInnen am Beginn ihres Aufenthaltes in einem neuen Land: Alles ist fremd und muss erst mühsam angeeignet werden. Allerdings bleibt ein hoffnungsvoller Ausblick – die Tochter, d. h. die zweite Einwanderungsgeneration, findet sich viel schneller in die Gepflogenheiten des aufnehmenden Landes hinein. Shaun Tan gelingt mit seiner bildhaften Parabel auf eindrucksvolle Weise, für Migrationsschicksale ganz allgemein zu sensibilisieren, wobei der Ausgang der Geschichte sehr optimistisch amerikanisch geschildert  wird – für manche Betrachtende vielleicht ein wenig zu
idealistisch.

Vollständiger Artikel zum Download siehe rechte Spalte.

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Marion Wiemann

Die Autorin

Marion Wiemann, Referentin für Medien- und Büchereiarbeit im Haus kirchlicher Dienste der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers