Fotos. Patrice Kunte

 

Christliche Migration

und kulturelle Vielfalt

Im Europa des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts sind Migration und Integration „zentrale Sorgenthemen“ (Klaus J. Bade) geworden. Dabei waren, historisch betrachtet, Zuwanderung, Integration und interkulturelle Begegnung schon immer zentrale Elemente der europäischen Kulturgeschichte.

In Deutschland wurde erst mit dem Inkrafttreten des „Zuwanderungsgesetzes“ (Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern) im Jahre 2005 politisch und juristisch der Übergang von einem „informellen Einwanderungsland“ zu einem „formellen Einwanderungsland“ vollzogen. Das Gesetz erhob Integration zur gesetzlichen Aufgabe und verpflichtete Zugewanderte, Angebote zur Integrationsförderung (z. B. Sprach- und Orientierungskurse) wahrzunehmen.

In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland wird Integration oftmals noch immer vor allem als eine Aufgabe der Zugewanderten beschrieben. Sie sollen sich anpassen, Defizite aufarbeiten, der deutschen „Leitkultur“ folgen. Wer das nicht schafft oder will, gilt als nicht „integrationsfähig“.
Eine solche Sichtweise verkennt, dass schon die Menschen in der aufnehmenden Gesellschaft sehr unterschiedlich sind und keinesfalls einheitlich. Auch weicht die Selbst- und die Fremdeinschätzung in Bezug auf den „Integrationsstand“ der Zugewanderten häufig stark voneinander ab.

Integration ist kein einseitiger Prozess, der von den Zuwandernden das Aufgeben der persönlichen Identifikation erwartet, um eine Anpassung an die Maßstäbe der Aufnahmegesellschaft zu erreichen, sondern ein wechselseitiger Prozess, der auch die Mitwirkung der Mehrheitsbevölkerung einschließt und eine gegenseitige Annäherung, Auseinandersetzung und Kommunikation voraussetzt, damit Gemeinsamkeiten entdeckt werden können und Verantwortung gemeinschaftlich übernommen werden kann. Nur wenn Einheimische wie Zugewanderte gleichermaßen Leistungen in den Integrationsprozess einbringen, kann dieser erfolgreich sein. Die Potenziale vorhandener Vielfalt müssen genutzt werden.  Die Integration muss die gleichberechtigte Partizipation am gesellschaftlichen Chancenangebot zum Ziel haben.

17 Prozent Migrantinnen und Migranten in Niedersachsen

„Während die Gesamtbevölkerung zurückgeht, steigt der Anteil der Migrantinnen und Migranten. So sank die Zahl der Menschen in Deutschland 2010 im Vergleich zum Vorjahr um 189.000 auf 81,7 Millionen. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund stieg im gleichen Zeitraum von 19,2% auf 19,3% und betrug insgesamt 15,7 Millionen. Insgesamt 8,6 Millionen, also mehr als die Hälfte der Migranten, besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. (…) Migrantinnen und Migranten sind im Schnitt deutlich jünger als Menschen ohne Migrationshintergrund: Mittlerweile kommen 34,9% der unter 5-jährigen Kinder aus einer Zuwandererfamilie.“ (1)

Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in Niedersachsen lag Ende 2009 bei 1.343.200, also bei knapp 17% bezogen auf die Gesamtbevölkerung. (2)

Die öffentliche Diskussion von Migration und Religion fokussierte im letzten Jahrzehnt vor allem die Zuwanderung von Muslimen bzw. Menschen aus muslimisch geprägten Ländern. Der Religion wurde dabei häufig die Rolle eines „Störfaktors“ zugewiesen, der Differenzen schafft. Aus dem Blick geriet dabei, dass auch die Religionen, die schon lange in Europa vertreten sind, wie das Christentum und das Judentum, durch Zuwanderung gewachsen und vielfältiger geworden sind. Ebenso geriet aus dem Blick, dass Religion eine wertvolle Ressource für das Gelingen von Integration sein kann.

Aktuelle Zahlen zum Verhältnis von Religion und Migration in Deutschland gibt es im Moment nicht. Hier wird erst die Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011 neue Erkenntnisse liefern. Als Beispiel kann aber der Hessische Integrationsmonitor dienen, in dem z. B. festgestellt wird, dass in Hessen 2/3 der Menschen mit Migrationshintergrund christlichen Glaubens sind und 20% muslimischer Religionszugehörigkeit. (3)

Anmerkungen

(1) Kurz-Zusammenfassung mit ausgewählten Daten und Aussagen des 9. Berichts über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 27.06.2012, S. 1

(2) vgl. Lothar Eichhorn: „Migration-Teilhabe-Milieus“ – Eine regionale Studie über Spätaussiedler und türkeistämmige Deutschen im sozialen Raum. IN: Statistische Monatshefte Niedersachsen 12/2011, S. 711ff.

(3)Integration nach Maß. Der hessische Integrationsmonitor. Hrsg. vom Hessischen Ministerium der Justiz, Integration und Europa. Wiesbaden 2010, S. 104.

 

Die besondere Funktion des Christentums

Da sowohl die Mehrheit der nach Deutschland Zugewanderten als auch die Mehrheit der hier Einheimischen Christinnen und Christen sind, kommt dem Christentum eine besondere Funktion zu. Davon ausgehend stellt sich die Frage, welche Rolle die (christliche) Religion für ein Gelingen der Integration spielen kann. Folgende Erfahrungen sind zu beobachten:

  • Die Migration ist ein maßgeblicher Faktor bei der Entstehung von religiösem Pluralismus.
  • Religionen wandern mit den Migranten mit und verändern sich dadurch.
  • Religion gibt den Zugewanderten Halt und Orientierung, vor allem im Blick auf die eigene Fremdheit in der Aufnahmegesellschaft, aber auch hinsichtlich einer Aufwertung der eigenen Identität und der sozialen Stellung.
  • Migrationsgemeinden engagieren sich für ihre Mitglieder, sie können Selbsthilfeorganisationen, „Partizipationsagenten“, Versorgungskassen, Informationsbörsen u.v.m. sein.
  •  Migrationsgemeinden können „Übergangsräume“ zwischen dem „Alten-Mitgebrachten“ und dem „Neuen-Unbekannten“ sein.
  • Migrantinnen und Migranten können in den Gemeinden Kompetenzen erwerben, die ihnen helfen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, und die die Partizipation auch gesamtgesellschaftlich erleichtern.
  • Aufgabe der Kirchen ist es, den Zugewanderten Beheimatung und Beteiligung zu bieten, zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft zu vermitteln.
  • Der christliche Glaube ist gleichzeitig eine Brücke, der die Zugewanderten mit einheimischen Christinnen und Christen und mit kulturellen Werten in diesem Land verbindet.

Bei aller unterschiedlicher Akzentsetzung im christlichen Erbe ist der Glaube für beide Seiten eine gemeinsame Ressource, die zur Verständigung, zum Kennenlernen, zur Bearbeitung von Konflikten und zum Lernen voneinander aktiviert werden kann.